Juni 2015 – Dresden – Bunte Republik Neustadt

"Künstler" vor Waldlandschaft

Samstag, nachmittags

„Warte, gleich kommt die Überraschung.“ Egge grinst mich kurz an, dann dreht er sich wieder um. Der Regen prasselt liebevoll auf die Blätter über uns, neben uns. Um uns herum ist die grüne Hölle. Die Sächsische Schweiz, das Kirschnitztal. Und wir wandern da durch. Wir hätten heute irgendwo spielen können, aber wir haben am Abend vorher in Dresden bei der Bunten Republik Neustadt gespielt und wollten endlich mal gemeinsam wandern. Und da ist Sachsen ziemlich weit vorne.

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Als wir um die Ecke biegen, liegt vor uns ein Flüsschen, mitten zwischen zwei steilen Abhängen. Der Stein ist mosig, große Bäume hängen daran, die Wurzeln in fantastische Formen verschlängelt. Eine Märchenlandschaft. Und vor einem Bootshaus kauft sich gerade ein Motorrad-Rocker mit Halstattoo eine Bockwurst. „Schöne deutsche Heimat“, deklamiert ein Senior in Funktionskleidung. Zwei Bundeswehrsoldaten prosten sich mit Eiweißshakes zu: „Läuft bei uns.“

Wald.

Wir holen uns zwei Tickets für eine Bootsfahrt, zwei Bier und fragen die Verkäuferin, ob die Hutnadeln schön wären. „Hässlisch“, schmettert sie uns im fröhlichsten Sächsisch entgegen. Wir lachen, prosten uns zu und steigen auf das Boot. Während der Bootsmann in auswendig gelernten, nach einer schweren Depression oder Trinksucht klingenden Sätzen erklärt, welche Tiere wir in den Steinen erkennen können, wieso es diesen Fluss gibt und welche Rolle der Baum in Sachsen hat, grinsen wir uns an. „Eine Runde Mitleid an die Menschen, die jetzt irgendwo im Büro sitzen oder sich mit ihren Beziehungen streiten.“ „Ja, genau.“ Prost.

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Nach der Flussfahrt geht es zurück auf den Wanderweg. Eine Stunde steiler Aufstieg auf den Königsstein. Eine Abkürzung, wie Egge sagt. Die Beine brennen, die Lungen öffnen sich weit für die saubere Luft. Der Sauerstoff geht direkt ins Gehirn. Wir schwitzen, wir lachen, wir machen doofe Sprüche, wir singen alte Lieder. „Aber dennoch hat sich Bolle ganz köstlich amüsiert.“ Lieder, die uns unsere Väter beigebracht haben. Dann stehen wir auf dem Königsstein und vor uns das Waldmeer. Ein Gefühl wie ein Bild von Caspar David Friedrich. „Kanzler-Gefühle kriegt man hier“, sagt Egge und lacht. Es fühlt sich an, als hätte der ganze Weg, den wir bislang zusammen gegangen sind, fast zehn Jahre als Band, als hätte dieser Weg die ganze Zeit schnurstracks genau auf diesen Moment geführt. Bäm.

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Damit kennen sich die Sachsen aus.

Freitag, nachts

Keine fünf Minuten mehr, und wird es eine Schlägerei geben. Die Dresdener Neustadt pulsiert. Bebt, nicht nur vom Bass aus der Box, die seit Stunden Drum’n’Bass in die Gasse pumpt. Fünf Meter weiter ist jetzt House-Abfahrt angesagt. Studies im globalen Feier-Look, Atzen mit mahlenden Kiefern, drei Leute mit Camouflage-Jacken. Und Polizei in Kampfuniform, die bedrohlich schaut. „Gut, dass die Bullen hier sind“, sagt ein Punk neben uns. „Bitte was?“ „Naja, früher haben die eingegriffen, wenn die Nazis kamen. Jetzt schützen die uns vor den normalen Deutschen.“ Die Bunte Republik Neustadt sei ganz anders als noch vor einigen Jahren, erzählt er. Wir hätten mit unserer Bühne Glück gehabt, da wären keine Idioten gewesen, aber rundherum, das sei Mallorca.

Micky Maus ist im Haus.

Freitag, nachmittags

„Hartmut Engler hat bei der Show ‚Sing mein Song‘ geweint, weil er von seinen ‚Emotionen zugeprasselt‘ wurde“, zitiere ich eine Zeitung. Draußen braut sich eines der krassesten Stadtfeste Deutschland zusammen: Die Bunte Republik Neustadt. Wir haben uns vor dem Regen und den Massen an Menschen in eine Kneipe geflüchtet, Kaffee bestellt und spielen – zum ersten Mal in unserer Band-Karriere – Schach. Egge gewinnt, eindeutig. Wir dürfen heute im Areal II bei den Bretterbuden spielen, die Treberhilfe Panama e.V. hat uns eingeladen, es ist ein Soli-Konzert. Freunde aus Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Sachsen sind da. Es wird sich herzlichst umarmt. Im Alaunpark spielt eine Grunge-Band.

Dessert.

Samstag, nachts

Fossi von unserer Lieblingspunkband Kaput Krauts aus Berlin-Mitte schreit sich den Leib aus dem Hals. Das besetzte Haus in Jena dreht durch. Geil, Pogo. Wir sind nach Thüringen gefahren, nachdem wir im geilsten Landgasthof Ostsachsens Mittag gegessen haben. Jetzt hängen wir mit den Verrückten aus Jena und den Muckern aus Berlin zusammen. Die Krauts und Das Flug sind zusammen auf Tour, und wir mussten sowieso was im Haus abgeben. Also tanzen wir, flirten wir, singen wir, freuen uns. Genießen.

PS vom Egge: Bastei ist hübsch, aber voller Touristen. Fahrt zur Oberen Schleuse und lauft zur Grenze. & überhaupt: Costa trägt echt Funktionsunterwäsche. Wow.

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